"Der Glaube muss in der Kultur eine Rolle spielen, damit die Welt nicht zugrunde geht."
Ludwig Mülheims
Bei der Nominierung von Gerlind Reinshagen für den diesjährigen Ludwig-Mülheims-Preis war das Kuratorium von dem Stück "Die fremde Tochter" ausgegangen. Die Uraufführung fand erst danach, im März 1993, in Basel statt. Die Besprechungen einiger bundesdeutscher Kritiker machten deutlich, dass das Stück nicht im Trend zu liegen scheint. Das hat zwar bei der Zuerkennung des Preises keine Rolle gespielt, die Preisvergabe kann aber nachträglich auch als eine Demonstration für die von eingigen einflussreichen Zeitungen und Fachzeitschriften ignorierten Qualitäten des Stücks aufgefasst werden. Um die literarisch-theatralischen Qualitäten geht es dabei ebenso, wie um das dem Metaphysischen aufgeschlossene Menschenbild, und vielleicht gewinnt der Gedanke, dass beide voneinander abhängen und einander mitbedingen könnten, sogar etwas Überzeugendes.
Von einem Inhaltsbonus, der das Stück automatisch einem Preis für religiöse Dramatik empfehlen müsse, kann keine Rede sein. Zwar gibt es da die karitative Gruppe der jugendlichen 'Poretaner', die sich nach der christlichen Mystikerin Margareta Porete benannt hat, aber: Es handelt sich um eine Opponentin der Kirche, die 1310 in Paris als Ketzerin verbrannt wurde. Zwar nennt Gerlind Reinhagen die sieben formal abgehobenen chorischen Partien - das Stück beginnt und endet mit solchen - 'Exerzitien'; in der ersten Regiebemerkung heißt es: "In manchen Szenen ahmen die Personen sakramentale oder kultische Handlungen nach" - aber: "ohne im entferntesten daran zu glauben oder überhaupt sich ihrer bewusst zu sein." Die Autorin bekennt in einem Interview: "Ich verfolge keine religiösen Ziele mit meinen Figuren ... Ich werte nicht im Stück, und ich erkläre nichts." Die Forderung, Theater müsse "belehren", ist ihr "furchtbar". Auch "trösten" will sie nicht so platterdings, wie das manchmal erwartet wird. So viel oder so wenig zum Nächstliegenden.
"Eine Art Botschaft" immerhin gesteht Gerlind Reinhagen ihren Stücken zu - und dies macht zugleich ihren ganzen Sinn aus -, indem sie hofft, dass wir nicht aufhören mögen, ähnliche Fragen zu stellen, wie sie sie mit den Figuren gestellt hat. Das sind freilich nicht "die rasch gestellten, die auf der Hand liegenden Fragen", die ebenso rasch beantwortet sind. Solche Antworten würden beim Zuschauer nur Vorurteile oder "eine pharisäerhafte Selbstgerechtigkeit" stärken, ihn nicht "treffen". Das Theater hat die Chance zum Gegenteil. Es ist für Gerlind Reinshagen "das letzte Forum", um jener "schnellen Art von Weltbestimmung", die uns von vielen Medien aufgedrängt wird, "Paroli zu bieten". "Gerade aus dem Nicht-Deutbaren, Nicht-Bestimmbaren" könnte Faszination erwachsen. "Als schwer ergründbare Kreatur könnte hier der Mensch für den Zuschauer wieder interessant werden: rätselhaft, daher näher im Leben."
Gerlind Reinshagen (* 4. Mai 1926 in Königsberg, Ostpreußen; † 9. Juni 2019 in Berlin)